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Jackie

Der Korb liegt immer noch neben dem Esstisch, als Bernd vom Tierarzt zurück kommt. Natürlich ist der noch da, wer sollte den auch weggeräumt haben? Hier in seinen 63 Quadratmetern. Vielleicht kann er den Korb verkaufen? Die Leute würden nur wissen wollen, warum er den Korb verkauft. - Weil der Hund tot ist. - Woran ist der Hund denn gestorben? - An dieser Krankheit, die nur Hunde kriegen. Wenn die die haben, müssen die eingeschläfert werden. - Sie wollen mir den Korb Ihres kranken Hundes verkaufen? Soll mein Hund auch noch krank werden? Hassen Sie etwa Hunde?

Den Korb sollte er besser nicht verkaufen, auch wenn Bernd Hunde nicht sonderlich mag. Bernd steht vom Tisch auf. Er muss noch den Abwasch machen. Gestern Abend ist er zu müde gewesen. Als er heute morgen die schwitzende, röchelnde Jackie fand, hat er sie sofort zum Tierarzt gebracht. Bernd wundert sich, wie nahe ihm der Tod von Jackie geht. Jackie ist ein kleiner wütender Hund gewesen. Weiß mit braunen Flecken und immer im Kampf gegen die Welt. Jeder Mensch, der vorbeikam wurde angebellt. Wenn gerade keine Menschen in ihrer Nähe waren, jagte sie Tauben, Ratten oder einfach wegrollende Plastikbecher. Die ist nur ein bisschen lebhaft, die macht nichts. Wie albern Bernd es vor Jackie gefunden hatte, wenn sich Hundebesitzer für ihr Tier entschuldigten. Jackies Kampf beschränkte sich nicht auf sich bewegende Dinge. Manchmal kläffte sie den Schrank im toten Ende des Flurs an. Darauf lag in einer Plastikunterbettenkommode ein Schafsfell. Bernd nahm es schließlich herunter, rollte es aus. Erst musste er Jackie ins Badezimmer sperren, damit sie das Fell nicht zerfetzte. In den Fell konnte er keine Spuren von Mäusen, Motten oder irgendeinem Leben finden. Doch Jackie war sich sicher, was immer es war, es verdiente ihren Kampf.

Der Abwasch ist gemacht und das Bild von Jackies kleinem Körper im zu großen Korb kommt sofort zurück zu ihm, als er sich von der Spüle abwendet. Besser er wirft den Korb gleich weg, dann hat er es hinter sich. Schnell und schmerzlos beginnt er sein Leben ohne Hund. Der Hundekorb passt unten in den Müllcontainer. Dann hat er noch den großen Beutel mit trockenem Hundefutter. Das hat es vor zwei Monaten im Angebot gegeben. Ob man Hundefutter zurückgeben kann? Guten Tag, ich möchte gerne diese siebeneinhalb Kilo Hundefutter zurückgeben. - Haben Sie einen Kassenbon? - Nein, aber den Totenschein meines Hundes. Natürlich hat Bernd keinen Totenschein für Jackie. Er hat garnichts schriftliches darüber, dass Jackie tot ist. Braucht er so einen Schrieb? Vielleicht wäre das ganz gut, sonst glaubt ihm Astrid nicht. Eigentlich ist Jackie ihr Hund, auch wenn sie schon vier Jahre weg ist. Ab wann verjährt eigentlich Hundebesitz? Besser er geht jetzt mal raus, dann hat er es hinter sich. Den Korb unterm Arm und den schweren Beutel über die Schulter gelegt, hastet Bernd so schnell geht die Treppen runter. Verjährungsfristen und Totenscheine für Hunde - was wohl heute mit ihm los ist?

Der Müllcontainer ist schon voll. Das mit der Mülltrennung funktioniert immer noch nicht. Darin liegen voluminöse Weichspüler-Plastikflaschen, eine wahrscheinlich defekte Kaffeemaschine, aus der man nicht einmal den schimmeligen Filter genommen hat und einiges andere, was da nicht hingehört. Bernd schiebt die Klappe des Containers ganz zurück. Er legt den Hundekorb auf das Bett des nicht korrekten Restmülls. Doch um die Klappe wieder über den Container schieben zu können, muss er Korb herunter drücken. Wenn er links drückt, geht der Korb rechts in die Höhe und wird von der Klappe heraus geschoben. Dabei reißt er einiges von dem Müll darunter mit. Eine erste Lawine hat sich schon gelöst und sich um Bernds Füße verteilt. Er läßt die Klappe los und versucht den Müll aufzuheben. Dabei traut er sich nicht den Korb loszulassen, womöglich fällt dann noch mehr Müll herunter. So versucht er sich zu strecken, um den Abfall mit spitzen Fingern aufzuheben, als er ein Klappern hinter ihm hört. Jemand kommt in den Abfallkäfig.

“Da brauchen Sie noch eine Hand.”

Es ist Kerstin Pawulke. Die dralle Hauswärtin wohnt mit ihrem Sohn im Erdgeschoss. Wie immer trägt sie zu ihrem tadellosen Makeup mit rotem Lippenstift einen braunen Overall. Sie zerrt einen großen viereckigen Laubsack in den Abfallkäfig. Bernds Bemühen scheint sie ein wenig zu amüsieren, doch eigentlich lächelt sie immer. Mit ihren Handschuhen sammelt sie den Müll weniger vorsichtig als Bernd ein. Als sie den Hundekorb im Müllcontainer, dann den vollen Beutel mit dem Futter bemerkt, verliert sie ihre Tatkraft.

“Oh nein, die Jackie. Ist sie …?” Bernd hat nicht mit dieser Geste, dieser Hilflosigkeit gerechnet. Der Tierarzt war abgeklärt gewesen. Er hatte die Situation erklärt, wie ein Friseur einen Haarschnitt erklärt. Bernd ist bis eben noch in seinen Gedanken gewesen, als er jetzt Kerstins Augen sieht. Während er den Hundekorb zurückhält, damit nicht noch mehr Küchenabfälle herausfallen, spürt er wie sich etwas in seinem Hals zusammenzieht, wie es anfängt in der Nase zu brennen. Bernd weint. Kerstin legt rasch den aufgesammelten Müll in den Hundekorb, hindert diesen mit ihrer einen behandschuhten Hand daran auf sie zu stürzen, während sie den anderen Arm um Bernd schlingt.

“Das ist schlimm. Aber das ist auch in Ordnung.”

“Das war noch nichtmal mein Hund. Jackie war Astrids. Ich mag die Töle nicht einmal”

“Als der Hamster meines Lütten gestorben ist, war das auch so. Es war ein nutzloses Vieh. Süß aber nutzlos. Tagsüber hat er geschlafen. Dafür hat er nachts Radau gemacht. Die Streu aus aus dem Käfig geworfen und so. Als Moritz dann endlich gelernt hat, sich selber um das Tier zu kümmern, hab ich es anderthalb Jahre nicht mehr gesehen. Irgendwann stand Moritz in der Küche, mit dem Hamster in der Hand und weinte. Hab mich drum gekümmert. Wir haben den bei uns Garten begraben. Abends kam’s dann bei mir. Das Weinen, die Angst, mir wurde ganz anders. Da hat Moritz schon längst mit den andern Kindern aus der Kolonie getobt und gespielt.”

Gerne möchte Bernd ihr alles erzählen. Wie Astrid weg ist. Wie sie ihn für einen Kerl mit “Hundeallergie” mit der kleinen Kampfmaschine Jackie zurückgelassen hat. Wie er erst noch überzeugt war, dass sie wiederkommt. Wie er er dann die Hoffnung verlor und nur noch mit dem Hund vor die Tür ging. Wie er den Rest seiner Zeit mit diesem Kartenspiel auf seinem Computer verbrachte. Wie er sich davon überzeugte, dass er Astrid nicht brauche und die bloß nicht wiederkommen solle! Wahrscheinlich wäre er damals zum Trinker geworden, wenn Jackie nicht gewesen wäre. Das erste Mal hat er sie in die Kneipe mit reingenommen. Sie hat jeden angebellt, der auch nur auf Klo ging. Als es dunkel wurde und die Diskokugel eingeschaltet wurde, mussten sie gehen. Noch einmal hat er es versucht und Jackie vor der Tür angebunden. Nach einer Dreiviertel-Stunde kam die Polizei. Wessen Hund das sei? Es habe Beschwerden gegeben, der Hund greife Kinder an. So war es nicht die Kneipe sondern das Kartenspiel gewesen, mit dem Bernd die letzten vier Jahre herumgebracht hat. Bernd löst sich aus Kerstin Umarmung, zieht die Nase hoch, er versucht die Tränen wegzublinzeln.

“Wie nimmt’s denn die Astrid auf?” fragt Kerstin.

“Die muss ich noch anrufen. Die ist gerade in Freising, bei ihrer Mutter. Das geht auch bergab mit ihr.”

“Ach deshalb! Ich hab die Astrid schon ewig nicht mehr gesehen.”

“Ja, die Mutter und dann der Schichtdienst. Sehe die selber kaum noch.”

“Wenn’s kommt, dann dicke. Erst der Hund, dann die Mutter. Passen Sie auf die auf. Die ist eine gute.”

Bernd kommen schon wieder die Tränen. Kerstin klopft ihm ermunternd auf die Schulter, bevor sie entschlossen den Hundekorb mit dem beiden Händen in den Müll presst und Bernd auf ihre Aufforderung hin den Deckel wieder über den Container gleiten lässt.

“Danke für die Hilfe und das andere.” Bernd greift nach dem Hundefutterbeutel, während Kerstin das Laub in die Biotonnen stopft.

“Klar und wenn Sie mal wen zum Reden brauchen, ich bin jeden Tag da.”

“Danke.”

Wie gerne Bernd ihr als das erzählt hätte, doch Astrid hat den Mietvertrag unterschrieben. Wenn die Hausverwaltung rauskriegt, dass sie ausgezogen ist, dann muss er auch umziehen. Dann ist alles echt.


Der Papiergriff des Hundefuttersacks schneidet Bernd in Hand. Dreimal hat er schon die Hand gewechselt. Bei jedem Schritt hebt sein Oberschenkel den Sack ein wenig an, nur damit dieser gleich wieder fällt und Bernd ein Stück zurückstößt. Er war auch schon mal besser in Schuss. Schleichend geht das. Erst ist man jung, ohne es zu merken, ist man plötzlich nicht mehr in Schuss. Es wird schon seit Tagen wärmer und im Park ist niemand, der Hundefutter braucht. Es wegzuschmeißen wäre schade. Es einfach irgendwo hinzustellen ist scheiße. Bei sowas kommen die Ratten und Bernd hat den Beutel mit der Karte bezahlt. Bestimmt können die das zurückverfolgen und dann muss er den Kammerjäger bezahlen. Ob das im Park auch Kammerjäger heißt? Eine Kammer ist drinnen und ein Park nicht. Während Bernd diese Gedanken verfolgt, hat er sich auf eine Bank gesetzt. Seine Hand kribbelt, als durch die tiefrote Falte vom Griff wieder Blut strömen kann. Er starrt in den Himmel. Es ist eigentlich ein schöner Tag. Wenige leichte Wolken bummeln über den blauen Himmel. Davor tanzen die grauen Flecken, die Bernd immer sieht, wenn er etwas Helles anschaut. Angeblich sind die harmlos. Meinte zumindest der Augenarzt. Wie lange es her ist, dass er einfach so draußen saß und in den Himmelt schaute? Als er Astrid kennenlernte? Haben Sie ein Picknick gemacht und auf der Wiese gelegen? Wahrscheinlich nicht. Sie ist kein Draußen-Mensch, sie mag nicht einmal Tiere. Jede Spinne hatte er nicht nur fangen, sondern auch töten müssen. Astrid braucht Menschen um sich. Sie hatte ihn überall hingeschleppt. Buchlesungen, Vernissagen und immer mindestens ein Volkshochschulkurs. “Hallo, ich bin die Astrid und das ist mein Bernd”, hatte sie sie beide vorgestellt. Selbst im Urlaub waren sie nie am Meer, sondern gingen in Museen oder auf Führungen durch Kanäle, in denen die Christen ihre Toten versteckten.

Etwas ist an Bernds Bein und schnuppert. Jackie! Es ist nicht Jackie, die ist tot. Ein grauer, lockiger Hund schnuppert aufgeregt an dem Sack Hundefutter. Bernd hört ein Kind rufen. Gerade über die Hügelkuppe läuft ein Junge dem Hund hinterher. Er ist vielleicht neun Jahre alt und sein Körper füllt seine abgetragene Kleidung ein bisschen zu sehr aus. Er schnauft von der Verfolgung des Hundes.

“Entschuldigung!” ruft er “Der macht nichts. Der ist nur hungrig!”

Früher hätte dieser Ausruf Bernd beunruhigt. Doch selbst Jackie hat ihn nie gebissen, ob hungrig oder nicht.

Der Junge hat den Hund an die Leine gelegt und versucht ihn von dem Futterbeutel wegzuziehen. Doch der Hunde winselt und stemmt sich gegen den Zug der Leine.

“Der hat Hunger. Das Amt hat nicht gezahlt. Sind halt Schweine, sagt meine Mama. Nun ist das Hundefutter alle. Ich hab was von dem Schulessen mitgebracht, aber das macht den krank. Ratten kann er auch nicht fangen. Hab ich schon versucht. Direkt vor ein Gebüsch voll mit den Viechern hab ich den gesetzt. Man konnte die rascheln hören. Schließlich ist der da rein. Die Ratten rannten überall hin. Dann kam mit einem Stock im Maul wieder raus.”

Bernd ist fassungslos, dass ein Mensch so schnell reden kann. So hat er sich das immer vorgestellt, wenn die Prüflinge durch die von ihm entworfene theoretische Führerscheinprüfung fielen. Wie sie anfingen ganz schnell reden, um sich zu retten. Auch wenn es hoffnungslos war.

“Auf jeden Fall hat der Hund Hunger. Deshalb geht der nicht” - Der Junge zerrt nochmal an der Leine. Der Hund winselt. “Komm schon.”

“Warte mal. Ich brauch das nicht mehr.” - Bernd zeigt auf den Sack Hundefutter. “Ich wollte den sowieso verschenken. Mein Hund ist nicht mehr da, also weggelaufen ist der.”

“Der kommt doch bestimmt wieder.”

“Der kommt nicht wieder. Der ist schon viel zu lange weg. Vier Jahre schon. Habe noch extra frisches Futter gekauft, falls er doch kommt. Aber manchmal passiert’s nicht, dann muss man aufgeben.” Bernd fängt schon wieder an zu blinzeln. “Auf jeden Fall wollte ich es nicht wegwerfen. Du kannst das gebrauchen, oder?”

“Ja, bestimmt! Danke!” Der Junge bückt sich zu seinem Hund. “Walter, sag Danke!”

Walter, das hungrige Fellbündel, stellt sich auf seine Hinterbeine und bellt hell. Nun fängt es wieder an, das Ziehen im Hals, das Brennen in der Nase. Bernd steht auf. Er geht schnell davon.

“Hey, Sie brauchen keine Angst zu haben. Der sagt so Danke! Der tut nichts, der hat nur Hunger!”

Bernd winkt, um zu zeigen, dass alles in Ordnung ist. Der Junge versucht den Futterbeutel anzuheben, der halb so groß ist wie er. Bernd muss weg, sonst würde einem Neunjährigen alles erzählen. Der hat es schon schwer genug, der muss noch nicht wissen, was das Leben bieten wird.


Der Park zum Glück leer. Die Menschen sind am Arbeiten. Als Bernd den Markt erreicht, fühlt er sich wieder wie er selbst. Bernd kauft sein Brot immer auf dem Markt. Wenn’s geht auch alles andere. Das ist noch echte Qualität.

Am Eingang steht Hildes Blumenpavillon.

“Huhu, Bernd!” - Sie winkt ihm schon von ihrem Campingstuhl zu. Bernd kommt nicht drumherum und muss zu ihr. Seitdem Jackie eine unglückliche Katze auf dem Markt entdeckt hatte und diese voller Entschlossenheit unter, über Stände und durch diverse Auslagen gejagt hatte, musste sie draußen bleiben. Bernd hat sie bei Hilde angebunden und ein wenig geplaudert. Hilde ist drei Jahre älter als er. Einmal hat er über Ruhestand gesprochen und sie hat laut aufgelacht. Sie mache das nicht wegen des Geldes. Als ihr Mann vor zwanzig Jahren starb, hat sie genug geerbt. Sie hatte so eine Freude daran gehabt, die Grabbepflanzung zusammenzustellen, dass sie wusste, was sie mit dem Rest ihres Lebens tun würde. Eine Erleichterung sei das gewesen.

“Keine Jackie?” fragt sie ihn.

“Jackie, die ist beim Tierarzt.” - streng genommen, stimmt das sogar noch. Wie lange bewahrt ein Tierarzt einen Kadaver auf? Vielleicht wird Jackie an die anderen Tiere verfüttert. Bernd will verhindern, dass ihm wieder die Tränen kommen. Vor allem vor Hilde. Hilde, die immer gut aufgelegt ist und bei der er sich noch Mühe gibt. Wenn er jetzt anfängt zu weinen, dann erzählt er ihr bestimmt alles. Man erzählt Frauen nicht von den Exen, zumindest nicht allen Frauen.

“Hoffentlich doch nichts schlimmes?”

“Nein, nur zur Beobachtung.”

“Dann ist ja gut.”

“Ich muss dann auch mal.”

“Klar, gib der Jackie einen dicken Kuss von mir. Alles gute.”

Beim Verlassen nimmt Bernd den Ausgang auf der anderen Seite und geht in einem weiten Umweg nach Hause.


Jackie ist seit einer Woche tot und Bernd ist nur noch einmal herausgegangen. Zweimal hat er noch Dinge von Jackie weggeworfen. Immer Abends im Dunkeln, wenn er sich sicher war, dass Kerstin, die Hauswärtin, ihn nicht sieht. Einmal war es ihm zu viel geworden, schon wieder die Spielkarten im Computer auf vier Haufen zu sortieren. Die Ruhe ohne Jackie, die er sich oft gewünscht hatte, begann ihm zu drohen. Er ging sogar in die Kneipe. Das ist es dann wohl, dachte sich Bernd, Ich bin alt, ich bin allein, ich kann auch trinken. Niemand sprach in der Kneipe mit ihm. Mit Jackie hatten die Leute ihn wenigstens noch angesprochen. Die Musik war zu fröhlich. Das Bier schmeckte ihm auch nicht mehr. Das andere Spiel auf seinem Computer ist komplizierter. Es geht darum ein Minenfeld zu entschärfen. Ständig explodiert das ganze Feld. Bernd hat sich lange Tabellen angelegt, um herauszufinden, wie es funktioniert.


Vor Bernd locken lange Plexiglas-Vitrinen mit ihren Auslagen. Plundergebäck, belegte Brötchen und “Toskana Miracle”, die Käsekreation der Woche. Sein Brot ist alle und er will nicht zurück zum Markt. Dann müsste er Hilde sagen, dass Jackie tot ist, dass er sie angelogen hat. Nirgend scheint es hier richtiges Brot zu geben. An der nächsten Wand füllt eine Frau die Kaffeemaschine auf. Sie ist in den Farben des Backshops gekleidet.

“Entschuldigung. Haben Sie auch Brot?” spricht Bernd sie von hinten an.

Die Mitarbeiterin dreht sich zu ihm um. Es ist Astrid. Sie hat sich die Haare hochgesteckt, damit sie unter die Haube passen. Sie ist dünn geworden.

Es ist Astrid. Bernd bleibt alles stehen. Er ist wieder vor vier Jahren und wünscht sich, er und nicht Jackie wäre gestorben.

“Bernd! Was machst Du denn hier?”

“Brot kaufen.”

“Hier? Du kaufst hier Brot? Du war doch immer so ein Bäckerhandwerks- und Natursauerteig-Typ.”

“Ja, das stimmt schon. Aber die Jackie ist tot und ich kann nicht mehr auf den Markt gehen.”

“Die Jackie ist tot? Das tut mir aber leid.”

“Nein, mir tut’s leid. Wusste nicht wie ich es Dir sagen sollte. Eigentlich war’s dein Hund. Habe lange gewartet, dass Du sie holst. Dass Du vielleicht sogar zurückkommst, wenn Du Dich von Ludwig trennst. Sie seid anscheinend immer noch zusammen.”

“Komm mal mit.” - Astrid schiebt ihn hinter den Glasvitrinen in einen kleinen Raum. Es ist zu warm. In zwei Aufbacköfen gehen noch mehr Croissants und Toskana Miracles auf.

“Du brauchst kein schlechtes Gewissen wegen Jackie zu haben. Ich mochte die Töle nie gerne. War mir viel zu lebhaft.”

“Aber das war doch dein Hund. Du hast Die doch geholt.”

“Ne Bernd. Eigentlich hab ich die für dich geholt. Damit Du wieder in Schwung kommst nach deiner Krankheit. Du wusstest nix mehr mit Dir anzufangen. Hingst den ganzen Tag zuhause rum und hast auf mich gewartet. So ein Hund, der bringt einen vor die Tür, hab ich gedacht. Doch das musste ich dann auch noch machen. Ich konnte nicht mehr.”

“Also hat Ludwig gar keine Hundeallergie?”

“Es gab keinen Ludwig. Ich musste einfach weg. Ich konnte mir das nicht mehr ansehen. Jedes Mal, wenn ich mit Dir über uns sprechen wollte, dann hattest plötzlich was zu tun.”

“Du hast mich wegen mir verlassen?” - Bernd kann sich nicht daran erinnern, wann zuletzt jemand etwas wegen ihm getan hat.

“Ja, aber lass uns das nicht wieder aufwärmen. Du brauchst mir gegenüber kein schlechtes Gewissen haben.”

Bernd kann in Astrids Blick nichts wiederfinden. Wie oft hat er sich vorgestellt, wie es sei sie wieder zu treffen. Was er dann sagen würde? Ob sie zu ihm zurück wolle? Ihn um Verzeihung bitte? Szenen voller Drama und Romantik waren es in seinem Kopf gewesen. Nun ist es ein kurzer Schreck und Wortlosigkeit.

“Wieso gehst Du überhaupt hier Brot kaufen? Was ist mit dem Markt?”

“Da kann ich nicht mehr hin. Ich mag die Blumen-Hilde und ich hab sie angelogen. Wegen Jackie.”

“Ach Bernd. Das ist ja schön. Hab schon gefürchtet, du kommst nie über mich hinweg. Geh da mal hin und sag ihr die Wahrheit. Zeig mal was von Dir. Das mögen Frauen.”

Astrid öffnet die Tür zum Geschäftsraum und als Bernd hinausgeht, fügt sie noch hinzu. “Hier gibt’s kein anständiges Brot, nur Wiederaufgebackenes.”


Bernd geht wie ihm wie aufgetragen wurde zum Markt. Der Tag ist noch heißer als die Tage zuvor. Hilde bespritzt Kinder mit ihrem Gartenschlauch. Ein Kind springt mit einem hellen Lachen zurück, als der Strahl es trifft; nur um gleich wieder vor zu den Freunden im Wassernebel zu laufen; in der Hoffnung wieder getroffen zu werden. Bernd geht im weiten Bogen um die Wasserschlacht herum. Er stellt sich neben Hilde.

“Immer noch keine Jackie?”

“Ich muss Dir was sagen. Ich hab gelogen. Die Jackie ist tot.”

“Ach, das ist ja doof. Die hätte hier richtig Spaß gehabt.”

Lord of the Toys

Selten hat mich ein Film so überfordert wie Lord of the Toys. Nicht weil die Handlung zu komplex war, nicht weil er mich emotional überlastet hat und auch nicht weil er Vorwissen benötigte. Es ist ein Dokumentarfilm und ich habe keine Ahnung, wie ich das Gesehene einordnen kann. Ich kann nicht einordnen, was dieser Film für meine Vorstellungen, wie unsere Gesellschaft funktioniert, bedeutet. Wie soll ich angesichts dieses Films gerade in diesen Zeiten die Hoffnung bewahren. Dabei handelt es sich nicht um eine Tragödie, nicht um ungerechtes Leid, der Film endet sogar mit einer versöhnlichen Note. Doch im Zentrum des Ganzen steht eine Sinnlosigkeit, die jeden Versuch eines Diskurs lachhaft erscheinen lassen kann.

Meine Probleme beginnen schon damit zu beschreiben, worum es in dem Film geht. Es ist das Porträt einer Gruppe junger Männer. “Rechte Youtuber” so schrieb ich es noch einem Freund vor der Vorstellung auf die Frage, was ich mir denn anschauen werde. Dafür wurde Lord of the Toys bekannt, als er auf der DOK Leipzig 2018 den Preis die Goldene Taube gewann und bekämpft wurde als ein Film, der rechten Youtubern eine Plattform gäbe. Auf eine gewisse Art setzt damit die Auswertung des Films genau sein Sujet fort.

Aber zuerst versuche ich mich einmal an dem Inhalt. Seit beinahe 24 Stunden versuche ich immer wieder in meinem Kopf Worte dafür zu finden, was ich gesehen habe.

Max Herzberg hat das geschafft, was ein neuer Traum vom Berühmt werden ist. Er ist ein erfolgreicher YouTuber mit einer Reichweit von über 100.000 Subscribern. Neben dem Unboxing von Messern, die wahrscheinlich unter das Waffenrecht fallen, geht es vor allem immer und immer wieder um seine Freunde, die auch fast alle mit Reichweite auf den Social Media Plattformen vertreten sind. Wobei auch das Wort Freunde falsch klingt, denn um an Max’s Ruhm teilhaben zu können, muss man sich anscheinend demütigen lassen, sich beleidigen und ausnutzen lassen. Viele dieser Erniedrigungen werden direkt auf Instagram gestreamt. Sie zeigen ganze Abende an denen sie viel, viel zu trinken und sich gegenseitig beleidigen. Der Film eröffnet mit einer Feier von ein paar jungen Männern auf einem Platz in Dresden. Max öffnet eine Flasche Sekt, er versucht mit ihr eine aufgeschnittene Wassermelone zu spritzen. Doch so schnell geht es nicht und Max reißt mit der Hand das Fruchtfleisch aus der Schale, wirft dieses auf Gehweg und beginnt aus der Schale zu trinken. Offenbar sind alle so besoffen, dass sich der Abend dem Ende zuneigt. Doch in der Wohnung wird Max von einem seiner Freunde zu einem Trinkwettstreit herausgefordert, den er eigentlich verliert, doch auf Grund einer Spitzfindigkeit erklärt er sich zum Sieger und kann nun diesen erniedrigen. In einer viel zu langen Sequenz ist man gezwungen sich anzuschauen, wie Max seinen Gegner vergast. Das ist kein sprachlicher Ausrutscher meinerseits. Max besprüht den Verlierer des Wettbewerbs mit Deo und ruft immer wieder “Ich vergase dich, ich vergase dich. Du wolltest doch, dass ich dich vergase”. Dazwischen ertönt der immer wieder genauso identitätsstiftende wie sinnlose Ausruf der Gruppe “Mulm!”. Schließlich endet die Sequenz damit, dass der Verlierer im Off der Kamera kotzt und Max nun endlich die Tür zu zieht. Kurz danach sitzt er in der Küche und lässt verloren zwischen zwei Fingern einen Fidget Spinner, ein Spielzeug, sich drehen. Dies ist der erste Moment an dem nur die Kamera des Dokumentarfilms die Situation einfängt. Das erste Mal das nichts live gestreamt wird.

Willkommen in einem Tag des Dokumentarfilms Lord of the Toys. Im Laufe des Films fallen noch deutlichere rechte Sprüche und es wird noch mehr gesoffen, noch mehr “Späße” werden gemacht. Aufgrund der Verwüstungen eines Gelages verliert einer seine Wohnung. Und all dies als großer Spaß, der jederzeit auf den Social Media Kanälen der Gruppe abrufbar ist. Max vermarktet ein Image als ostdeutscher Mann aus der Unterschicht mit Glücksspielsucht, einem immensen Alkoholkonsum und eine rechtsextremen Attitüde. Die ganze Zeit ist für mich nicht klar, was davon Marke ist und was er. Dies liegt weniger an der Verschmelzung von Online- und Real-Life-Persona als das Max die ganze Zeit nicht greifbar wird. Während der ganzen anderthalb Stunden ist es schwer, auch nur einen Hauch von Max zu erhaschen, der nicht kalkuliert wirkt. Während einige der anderen Protagonisten anfangen mehr von sich zu zeigen, bleibt Max dieses Mysterium. Vielleicht liegt es daran, dass ihm bewusst ist, dass die Dokumentarfilmkamera immer noch läuft. In einem seltsam geschliffenen Abendessen-Dialog mit seiner Freundin, teilt sie ihm mit, er sei ihr manchmal zu unromantisch. Max’s Reaktion ist es aufzustehen und dabei mitzuteilen, dass er mal kacken ginge. Ein Dialog wie aus einem Drehbuch.

Vielleicht rührt meine Überforderung daher, dass der Umgang der Gruppe miteinander eine Belohnung erfordert. Anders kann ich es mir nicht erklären, wieso man all die Beleidigungen, all diese Verachtung hinnimmt und sich nicht sich andere Leute sucht. Die einzigen Hoffnungen, die zur Sprache kommen, sind die Hoffnungen selber mehr Social-Media-Reichweite zu bekommen und zum Influencer zu werden. Vielleicht hat der Eindruck in der alten Gesellschaft keine Perspektive zu haben, dazu geführt, dass sich in diesem Freundeskreises Zeichen online wie offline verstärkt haben, die dazu führen, dass all diese Psycho-Kämpfe ein Zeichen der Zugehörigkeit sind. Und es gibt offenbar ein Publikum dafür. Doch es ist kein Punk, es ist keine Revolution. Keiner spricht über die Idee dahinter. Es gibt keinen Überbau.

Hier bin ich in dem Zentrum meiner Überforderung. Mich interessiert nicht mehr so sehr, dass Max und Konsorten rechte Codes benutzen. Mich schockiert vielmehr, dass sie all diese sprachliche Gewalt vor allem untereinander anwenden und dafür von Hunderttausenden vermutlich jungen Männern angeschaut werden. Jeder Appell an Menschlichkeit und Moral erscheint mir angesichts dieses gelebten Nihilismus hinfällig. In meiner Vorstellung wird auf die Schilderung des Ertrinkens im Mittelmeer mit einem Lachen geantwortet: “Geil! Mulm!”

Gerade wegen des Vorwurfs der Film gäbe Nazis eine Plattform halte ich ihn für ungemein wichtig. Wie weit schaffen wir in unserer demokratischen Mitte die Ausgrenzung, die dazu führt, dass Leute wie Max solch einen Erfolg haben können und jeden aufnehmen, der so dringend Anschluß braucht, dass er sich Tag für Tag in der Öffentlichkeit erniedrigen und bloßstellen lässt.

Vielleicht ist meine Überforderung und meine Ratlosigkeit angesichts dieses Film das passende Gefühl für unsere Zeiten. Und ich möchte jeden von euch bitten, schaut euch diesen Film und schaut, was er mit euch macht. Denn vielleicht führt Ratlosigkeit auch dazu, dass sich neue Ideen entwicklen wie man mit diesem Auseinanderbrechen der Menschlichkeit umgehen kann. Denn solche brauchen wir dringend.

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„Zumindest funktioniere ich noch.“ Wie absurd falsch ich lag. Nicht mit dem Funktionieren, das mache ich immer.

Egal was kommt, ich werde funktionieren. Ich gehe zum Job. Ich öffne die Briefe. Ich zahle die Rechnungen. Ich gehe ans Telefon. Ich spreche mit dem Vater. Einer Sucht gleich lasse ich für diese Dinge Leiden- und Liebschaften fallen.

Pflegeleichte Maschinenteile ersetzen das so Fallengelasene. Sie drücken ins Fleisch, doch bringen sie mich dazu die Dinge zu tun, zu denen ich nicht im Stande war.

Wie ein kaputter Roboter scheppere ich mit kreischenden Scharnieren durch die Tage. Die irrwitzigsten Figuren zeichnend, um mit steifem Bein, zwei linken Armen und rostigem Getriebe mittanzen zu dürfen.

Manchmal schweigt das Metall und von innen kommt knisterndes Schnaufen.